blaise quadrat kleinProf. Dr. Blaise Feret Pokos ist der Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe und Professor an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften. Für unser Magazin "Positionen 2023" hat er einen Artikel über den Stand und die Perspektiven des Diaspora-Engagements in der lokalen und globalen nachhaltigen Entwicklung verfasst, den wir hier ungekürzt veröffentlichen.

Die Vielfalt der Diasporaselbstorganisationen in Niedersachsen

Einleitung

Das Engagement der in Niedersachsen lebenden Migrant*innen ist so vielschichtig wie die Vielfalt ihrer Herkunftsländer, -regionen, -religionen, -sprachen und -kulturen. Schon angesichts der unterschiedlichen historischen Entwicklungen wäre es schwierig, von "Diaspora" nur im Singular zu sprechen, sondern eher von "Diaspora" im Plural. Nun, wie sichtbar und effektiv sind Diasporaorganisationen in ihrer Vielfalt in Niedersachsen? Lässt sich deren Beitrag von der Orientierung der „Entwicklungshilfepolitik“ des globalen Nordens in den globalen Süden abkoppeln? Welche Lehren können aus den Erfahrungen afrodiasporischer Selbstorganisationen gezogen werden?
Auch wenn es im Rahmen dieser Publikation nicht möglich ist, eine umfassende Bilanz und Perspektiven aufzuzeigen, möchte ich in diesem Beitrag zunächst ganz lakonisch anhand der Migrationsgeschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg die unterschiedlich entstandenen „Diaspora(s)“ skizzieren und dabei die Ausrichtung ihres Engagements, sowie die Frage ihrer Sichtbarkeit und Wirksamkeit in der lokalen und globalen nachhaltigen „Entwicklungsarbeit“ erläutern und Bilanz ziehen. Anschließend werde ich die Vielfalt der Migrantenselbstorganisationen (MSO) in Niedersachsen Anhand ihrer diversen Handlungsbereiche aufzeigen. Abschließend setze ich mich kurz mit zentralen entwicklungspolitischen Konzepten kritisch auseinander und formuliere neue Strategien für eine effektive, lokale und globale nachhaltige „Entwicklungsarbeit“ als Handlungsempfehlungen.

1. Diasporatypen und die Ausrichtung ihres Engagements nach dem Zweiten Weltkrieg

Aus der Migrationsgeschichte Deutschlands lassen sich zwei wesentliche Diasporatypen identifizieren, aus denen bestimmte Engagementformen hervorgingen:

Gastarbeiterdiaspora. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit, welcher durch den sogenannten Marshall-Plan entstanden ist, begann in Deutschland der Wettlauf um Arbeitskräfte. Am 22. Dezember 1955 wurde das deutsch-italienische Anwerbeabkommen geschlossen, das in dieser Form einmalig war. 1960 folgten Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland. Weitere wurden 1961 mit der Türkei und 1963 mit Marokko vereinbart. Schließlich wurden 1964 Anwerbeabkommen mit Portugal, Tunesien, Jugoslawien, Südkorea, den Philippinen und England geschlossen. Deutschland brauchte Arbeitskräfte, und die Menschen kamen. Der Traum von der Rückkehr in die Heimat wurde schnell enttäuscht, so dass viele ihre Familien nachholten (Vgl. Bade C., 1992). Daraus entwickelten sich, je nach Herkunft oder religiösem Hintergrund, verschiedene MSO mit unterschiedlichen Schwerpunkten und meist mit lokaler Ausrichtung. Denn die Konfrontation mit Diskriminierung, Benachteiligung, Ungleichbehandlung und Integrationsschwierigkeiten in Deutschland führte dazu, dass sich viele dieser Organisationen verstärkt, vor allem in den Bereichen Bildungsgerechtigkeit, Antirassismus, Antidiskriminierung, kultureller Selbstzuschreibung und religiöser Toleranz, engagierten.
Der Kampf um Gleichberechtigung und Gleichbehandlung, besonders auf dem Arbeitsmarkt, führte schnell zu der Erkenntnis, dass die Rückkehr in die Heimat nicht wirklich stattfinden würde, sondern dass es angesichts der vielen Möglichkeiten in Deutschland besser wäre, hier Fuß zu fassen und zu investieren. So entstanden neben den zivilgesellschaftlich orientierten Vereinen viele mittelständische Unternehmen und wirtschaftsorientierte Vereine u.a. durch die türkische, kurdische, griechische, italienische, nordafrikanische Diaspora Herkunft. Das Unternehmertum stand also stärker im Vordergrund als das unentgeltliche bürgerschaftliche Engagement. Die gleiche unternehmerische Orientierung prägte zudem die anderen, wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen so stark, dass auch hier viele „Entwicklungshilfeprojekte“ entstanden, die aber eher einen wirtschaftlichen Charakter hatten. Im Laufe der Zeit haben sich diese MSOs stark unternehmerisch professionalisiert wurden z.B. zu Beschäftigungsträger*innen, sind in den Förderstrukturen etabliert und sowohl lokal als auch global sehr sichtbar geworden.

Flucht- und Asylmigration-Diaspora der 80er - 90er bis heute. Vier Flucht- und Asylmigrationsdiaspora können hier genannt werden: 1) Flucht und Migration von der afrikanischen Demokratiebewegung der 80er - 90er Jahre bis zur aktuellen Migration nach dem Zerfall Libyens; 2) Flucht- und Asylmigrationsdiaspora aus den Jugoslawienkriegen; 3) Flucht- und Asylmigrationsdiaspora aus den Kriegen in Syrien und Afghanistan; 4) Flucht- und Asylmigrationsdiaspora aus dem Ukrainekrieg. Im Rahmen dieser Publikation möchte ich nur kurz auf die erste Form der Diaspora eingehen und sie mit der Gastarbeiterdiaspora vergleichen.

Flucht und Migration von der afrikanischen Demokratiebewegung der 80er - 90er Jahre bis zur aktuellen Migration nach dem Zerfall Libyens: Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der sogenannten Perestroika-Bewegung wurden große Teile Afrikas Ende der 80er bis in die 90er Jahre von einer Demokratisierungswelle erfasst. Die in der Zeit der Unabhängigkeit entstandenen Einparteienstaaten und diktatorischen Regime zerfielen einer nach dem anderen. Kriege, Bürgerkriege und Massenmigration nach Europa waren die Folge. Diese Migration war auch die Geburtsstunde vieler der ersten afrikanischen Selbstorganisationen. Trotz ihres Engagements zeichnen sich die meisten Organisationen leider durch mangelnde Professionalität, unzureichende Deutschkenntnisse und geringe Kenntnisse der Förderstrukturen aus. Sie existieren zwar de jure, sind aber de facto fachlich, strukturell und finanziell schwach aufgestellt und daher nicht wirklich sichtbar. Allein das Engagement und die guten Projektideen der Akteure reichen ohne stabile Strukturen und Infrastrukturen, ohne Fachlichkeit und ohne Finanzierung leider nicht aus, um sichtbarer zu werden. Immerhin ist es vereinzelt afrodiasporischen Vereinen gelungen, mit Hilfe engagierter deutscher „Entwicklungshelfer*innen“, Aktivist*innen und Afrikabegeisterter*innen zumindest strukturell und sprachlich sporadisch sichtbar(er) zu werden. Kleine und nicht immer effektive, lokale und globale Projektanträge wurden mit dieser Hilfe gestellt, Projekte bewilligt und durchgeführt. Auf lokaler Ebene haben sich viele dieser Organisationen leider auf die klischeehafte Rolle bzw. das westliche Afrikabild und die damit verbundenen Erwartungen reduzieren lassen, nämlich ein Verständnis von afrikanischen Vereinen in erster Linie als kulturelle Selbstdarsteller, als Musik- (Singen, Tanzen, Trommeln), Essens-, Afroparty-, oder Emotionalitätsgruppen. Als „entwicklungspolitisch“ denkende und gestaltende Brückeninstitutionen zwischen Afrika und Deutschland wurden sie selten wahrgenommen und waren sich auch selbst nicht immer sicher genug, diese Rolle zu übernehmen. Das Ringen zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung bzw. Fremd- und Selbstbestimmung bei der Definition von Vereinszwecken, Rollen und Themenbesetzung ist bis heute eine permanente Herausforderung für alle afrodiasporischen Organisationen. Auf der globalen Ebene wurden dann in der Regel viele Projekte finanziert und durchgeführt, die typisch für die „Entwicklungshilfe“ sind. Es wurden also mehr „für die Menschen“ und nicht immer „von und mit den Menschen“ (Partizipation auf allen Ebenen - konzeptionell, strukturell, finanziell) in Form von z.B. Bauprojekten von Schulen, Brunnen, Brücken, Gesundheitszentren sowie z.B. Projekte zur Armutsbekämpfung von Frauen und Kindern (Patenschaften) in der Landwirtschaft und Bildung oder auch im Umweltsektor realisiert. Die Effektivität, Effizienz und vor allem die Nachhaltigkeit dieser Projekte sind leider bis heute sehr fragwürdig.
Die wenigen afrodiasporischen Selbstorganisationen, die sich etablieren konnten, haben das erforderliche Sprachniveau erreicht Sie haben sich teilweise professionalisiert - mit einer Mischung aus bezahlten Hauptamtlichen und unbezahlten Ehrenamtlichen. Sie haben sich im Laufe der Zeit in Landes- und Bundesdachverbänden organisiert, die z.B. durch institutionelle Förderung zu wichtigen und relativ gut sichtbaren Akteuren der nachhaltiger „Entwicklung“ auf lokaler und globaler Ebene geworden sind. Sie konnten sich dadurch auch von Fremdzuschreibungen und klischeehaften Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft und der Geldgeber *innen befreien und selbstbewusster als „entwicklungspolitisch“ denkende und gestaltende Organisationen auftreten. Somit konnten sie wichtige Themen wie Bildungschancen, Antirassismus und Antidiskriminierung, Integration und Entwicklungspolitik auf Augenhöhe und fachlich auf hohem Niveau vertreten, verteidigen und in Form von Projekten konzipieren und umsetzen.
Dennoch ist im Gegensatz zur Gastarbeiterdiaspora zu konstatieren, dass das Thema Unternehmertum im Bewusstsein der afrodiasporischen Selbstorganisationen noch nicht wirklich vollständig angekommen ist, sowohl was das Engagement auf lokaler als auch auf globaler Ebene betrifft. Das Engagement als unbezahlte Arbeit und primär als nicht arbeitsplatzschaffende zivilgesellschaftliche Organisation mit starker Abhängigkeit in projektartigen Finanzierungsformen (und nicht als unternehmerische Investition) bleiben die Hauptprägungen und Charakteristika afrodiapsorischer Selbstorganisationen und damit auch deren Achillesferse.

2. Vielfalt der Tätigkeitsfelder von Diasporaorganisationen

Im Jahr 2022 gab es in Deutschland insgesamt 615.759 Vereine. Allein in Niedersachsen waren 57.664 Vereine registriert und schätzungsweise (mangels statistischer Daten) 5 bis 20% davon sind MSO. Die Tätigkeitsfelder von Diasporaorganisationen sind ebenso breit gefächert wie die Förderinstitutionen. Sie lassen sich in folgende Hauptbereiche gliedern:
Community Work: Verbesserung der materiellen und sozialen Verhältnisse von Gemeinwesen (Ländliche Entwicklung, Städtische Elendsviertel, Soziale- und berufliche Rehabilitation) durch den Einsatz z.B. eines Teams technischer projektspezifischer Spezialist*innen (Straßenbau, Schulbau, Medizinische Versorgung, Wasserversorgung, Elektrifizierung etc.).
Bildung: Gesundheitsbildung und Aufklärung, Aus- und Fortbildung, Alphabetisierung.
Gender/Frauen: Engagement gegen Frauenarmut, Diskriminierung und Unterdrückung, Genitalienverstümmlung, Aufklärung und Bildung (Rechte, Verhütung), frauenspezifische „Entwicklungsprojekte“
Kinder-, Jugend-, und Familienarbeit: Kinderarmuts-, gesundheits-, oder umweltbedingten Herausforderungen und ihren Folgen, sowie von Benachteiligung betroffenen Kindern. Zielgruppen sind Straßenkinder im engeren Sinne, Kinderarbeit, Kinder in materiell und psycho-sozial stark benachteiligten Familien, Kinderprostituierte, Opfer von Kinderhandel etc. Instrumente der praktischen Umsetzung sind dabei mobile Jugendarbeit (Streetwork), Schutzräume, individuelle Beratung (Einzelhilfe), non-formale Bildung und Ausbildung, Einkommen-schaffende Maßnahmen, Familienbegleitung, Freizeitgestaltung, Gemeinwesenarbeit/Networking.
Humanitäre Hilfe: Humanitäre - und Katastrophenhilfe, Nachsorge hinsichtlich der Traumatabewältigung, Wiedereingliederung in den Alltag.
Ziviler Friedensdienst: Krisenprävention, Beratung und Intervention, Konfliktbearbeitung /Mediation, Friedenspädagogik, Bildungsarbeit (Demokratiestrukturen, Menschenrechte).
Entwicklungsorientierte Drogenkontrolle (EOD): Drogenkonsum als „Entwicklungshemmender“ Faktor, Suchtberatung, Suchtprävention, Suchthilfe.
Organisationsentwicklung: Organisationsberatung
Arbeit mit Migrant*innenen und Geflüchteten: Die meisten MSOs vertreten die Anliegen von Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte in der Gesellschaft.

 

Trotz dieser vielfältigen Handlungsfelder leiden die meisten MSOs noch immer an mangelnden Kenntnissen, sowohl im Projektmanagement (Konzeption - Antragstellung - Durchführung - Monitoring - Evaluation - Verwendungsnachweis - Berichterstattung), als auch an Unkenntnis der bestehenden Förderinstitutionen. Darüber hinaus scheinen für viele die bürokratischen Hürden der Antragsverfahren und Verwendungsnachweise sowie der fehlende finanzielle Eigenanteil, der bei einigen Förderinstitutionen als wichtige Fördervoraussetzung definiert ist, wesentliche Barrieren für die Handlungsfähigkeit und Sichtbarkeit von MSO zu sein.

3. „Entwicklungspolitik“ in Niedersachsen – Stand und Perspektiven

In diesem letzten Abschnitt möchte ich zunächst die vier zentralen „entwicklungspolitischen“ Konzepte kritisch beleuchten, um schließlich Handlungsempfehlungen für eine neue und effektive lokale und globale nachhaltige „Entwicklungszusammenarbeit“ vorzuschlagen.

"Entwicklungspolitik": Sehr häufig wird der Entwicklungsbegriff im Sinne einer erwünschten, nachhaltigen Veränderung von wirtschaftlich und sozial schwachen bzw. schwächeren Ländern in ärmeren Regionen der Welt nach westlichem und inzwischen quasi „globalisiertem“ Verständnis verwendet (vgl. Simson 1983). Entwicklungsbegriffe sind jedoch „(...) weder vorgegeben noch allgemeingültig definierbar, noch wertneutral, sondern abhängig von Raum und Zeit sowie insbesondere von individuellen und kollektiven Wertvorstellungen“ und unterliegen selbst einem ständigen (Weiter-)Wandel (Nohlen 2002, S. 216). "Entwicklung" wird daher als „sozioökonomisch-kultureller Prozess“ verstanden, der sich in der Regel an folgenden Dimensionen orientiert: Wachstum Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Partizipation, Unabhängigkeit/Autonomie (Klie & Klie 2018, S. 7). Das westliche Verständnis von "Entwicklung“ spielt aber nach wie vor eine dominante Rolle. Dies geschieht direkt oder indirekt über die Macht als „Finanzier“ von "Entwicklungsprojekten".

"Entwicklungsländer" sind nach einer statistischen Klassifikation der Vereinten Nationen (UN) die wirtschaftlich am wenigsten "entwickelten" Länder im Vergleich zu den sogenannten „entwickelten“, wohlhabenden "Industrieländern". Eine einheitliche Definition dieses Begriffs (dieser Begriffe) gibt es jedoch nicht. Die meisten Länder, die als "Entwicklungsländer" eingestuft werden, weisen jedoch gemeinsame Merkmale auf: niedriges Pro-Kopf-Einkommen, (Massen-)Armut, unzureichende Nahrungsmittelversorgung, mangelhafte Gesundheitsversorgung, hohe Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildungschancen, niedriger Lebensstandard, ungleiche Güterverteilung im Land. Die kritische Frage, die hier gestellt wird ist, ob die "Entwicklung" der Menschen nur auf den materiellen oder wirtschaftlichen Aspekt reduziert werden darf. Denn es ist uns allen klar, dass der Reichtum bzw. das Wachstum der reichen Industrieländer(„“) gerade auf dem Rücken bzw. den internationalen Verarmungs- und Ausbeutungsmechanismen (IWF, Weltbank etc.) der meist an Bodenschätzen und Rohstoffen reichen, aber dennoch als arm und nicht "entwickelt" bezeichneten Länder(n) beruht.

Armut: Die OECD definiert Armut als Prozess oder Zustand des Mangels und der unzureichenden Befriedigung von Grundbedürfnissen wie ausreichender Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung oder Sicherheit. Laut Weltbank gilt als extrem arm, wer weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat. Aber trifft diese Definition wirklich zu? Ein Bauer in Afrika, der sein Gemüse und seinen Maniok auf dem Feld ernten kann, der selbst Fisch fängt und damit ein gutes Mittagessen hat, ist doch nur deshalb als arm zu bezeichnen, weil nicht alle seine Nahrungsmittel mit Geld gekauft wurden?

"Entwicklungshilfe": Über Jahrzehnte hinweg haben die "Industrieländer", vor allem Europa, die „Entwicklungshilfe“ für die Länder des globalen Südens geleistet. Im Jahr 2022 gaben die DACH-Länder weltweit insgesamt rund 204 Milliarden US-Dollar für die öffentliche "Entwicklungszusammenarbeit" aus. Deutschland zahlte 2022 so viel "Entwicklungshilfe" wie nie zuvor: 3,3 Milliarden Euro. Doch was viele nicht wissen: Rund ein Drittel der Zahlungen geht an multinationale Organisationen wie die EU oder die Weltbank. Der Rest geht direkt an einzelne Staaten. Die USA zum Beispiel verlangen, dass der überwiegende Anteil der amerikanischen Lebensmittelhilfe in Afrika im Wert von 2 Milliarden US-Dollar jährlich bei amerikanischen Farmern gekauft, von amerikanischen Produzenten verarbeitet und von amerikanischen Unternehmen zum Zielort geliefert wird.

Angesichts der obigen Kritik möchte ich vier kurze Anmerkungen machen:
Erstens werden mit den vermeintlich selbstlosen Gaben der „Industrieländer“ im Rahmen der „Entwicklungshilfe“ nach wie vor handfeste strategische und ökonomische Interessen verfolgt, so dass die interessengebundenen Motive der „Hilfegeber“ zur Kritik einer Instrumentalisierung des Hilfebegriffs geführt haben. (Nohlen 2002);
zweitens sieht es keine Hilfsorganisation als ihre Aufgabe an, sich selbst überflüssig zu machen, und so tragen die Hilfsorganisationen zur Aufrechterhaltung des Systems Hilfegeber-Hilfsbedürftiger bei, denn: „Wer Hilfe empfängt, ist hilfsbedürftig und abhängig vom Hilfegeber, der sich dem Helfenden gegenüber als überlegen betrachten kann.“ (Lachmann 1999, S. 3);
drittens wird mit dem Paradigmenwechsel – „Entwicklungszusammenarbeit statt Entwicklungshilfe“ - versucht, die Gesamtheit aller öffentlichen und privaten Leistungen der Industrieländer an die „Entwicklungsländer“, die zur wirtschaftlichen und sozialen Förderung der „Entwicklungsländer“ im Rahmen der internationalen „Entwicklungspolitik“ beitragen, als gleichberechtigte und partnerschaftliche Zusammenarbeit aufzufassen (vgl. bpb 2013a). So werden die Hilfe-Empfänger*innen zu Partnerländern, Entwicklungsziele und Maßnahmen für das „Entwicklungsland“ werden gemeinsam und in gegenseitiger Verantwortung festgelegt, Nachhaltigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe sollen im Vordergrund stehen;
viertens ist trotz dieses Paradigmenwechsels bis heute eine effektive nachhaltige "Entwicklung“ im globalen Süden ausgeblieben. Die Frage ist, warum die Industrieländer an dieser „Entwicklungspolitik“ festhalten, obwohl sie nicht funktioniert? Die Antwort ist einfach: Die Geberländer intervenieren „entwicklungspolitisch“ aus ethischen und pragmatischen Gründen mit der Absicht, die wirtschaftlichen, sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse weltweit zu verbessern (BMZ 2015, Nr. 23). Ethisch, als Wiedergutmachungsversuch der Industrieländer für die Folgen der Kolonialisierung und der Globalisierung. Pragmatisch, aus eigennützigen Motiven wird gehandelt und interveniert, um Nachteile und Schäden für das eigene Land abzuwenden, z.B. die Bekämpfung von Fluchtursachen in die Industrieländer, von armutsmotiviertem Terrorismus oder die Verhinderung ökologischer Zerstörung. Im Kern geht es um erhebliche außenwirtschaftliche und politische Interessen der Geberländer und die Rolle der MSOs ist ambivalent. Sind sie nicht selbst bewusst oder unbewusst Teil des dysfunktionalen „entwicklungspolitischen“ Systems und agieren dementsprechend nicht unbedingt für die eigentliche nachhaltige Entwicklung, sondern eher für die unbewusste Aufrechterhaltung des Systems "Entwicklungspolitik-Entwicklungshilfe-Entwicklungszusammenarbeit"?

Handlungsempfehlungen und Fazit

  • Keine Förderung von Projekten, die ein negatives Bild des globalen Südens gegenüber dem globalen Norden produzieren, reproduzieren und verstärken: Das sind z.B. Projekte, die das Bild vermitteln, dass die Rettung und das Geld immer aus dem globalen Norden kommt und die Menschen im globalen Süden dadurch bevormundet und entmündigt werden. Für afrodiasporische MSOs sollen exemplarisch folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Welches Bild hat Europa/der Westen (Geldgeber) von sich selbst, welches Bild hat Europa/der Westen (Geldgeber) von Afrika, welches Bild hat Afrika (Zielgruppe) von Europa und dem Westen, welches Bild hat Afrika (Zielgruppe) von sich selbst und schließlich welches Bild vermitteln die MSOs von Europa und Afrika und welches Bild wird durch die Projekte umgesetzt?
  • Die MSO müssen die Logik des zivilgesellschaftlichen Engagements durch Projektorientierung ein Stück weit verlassen, denn gerade die Finanzierung von Projekten ist schon aufgrund ihrer zeitlichen Begrenzung nicht immer nachhaltig. Die Alternative wäre, sich zu Investoren zu entwickeln, d.h. zu arbeitsplatzschaffenden Strukturen mit Eigenbeteiligung der Menschen vor Ort, zu Start-Ups, zu Unternehmen. Der globale Süden braucht Investoren, Geschäftspartner, aber keine „Hilfe“. Was wir brauchen, ist eine Investitionspartnerschaft und keine Entwicklungspartnerschaft.
  • Die Förderlogik zwischen den Strukturen Bundes-/Landesministerien, anderen direkten Förderinstitutionen und den Projektträgern der MSOs muss, wenn nicht im Sinne der Zugänglichkeit optimiert, so doch gänzlich abgeschafft werden, um direkte Kontakte zu den MSOs zu ermöglichen. Denn ein großer Teil des Geldes, das für die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt wird, fließt in die Finanzierung (Gehälter) dieser Strukturen.
  • Entbürokratisierung der Antragstellungsverfahrens.
  • Angesichts des „entwicklungspolitischen“ Erwachens Afrikas und der aktuellen politischen Ressentiments Afrikas gegenüber dem Westen, die sich in Militärputschen in verschiedenen Ländern manifestieren, ist die Einberufung eines Forums „Entwicklungszusammenarbeit reloaded“ zwischen Politik - Wirtschaft und Zivilgesellschaft (MSO) in Niedersachsen zumindest für afrodiasporische MSOs zwingend notwendig. Denn „Entwicklungshilfe“ bzw. „Entwicklungszusammenarbeit“ ist keine Barmherzigkeitsfrage, sondern eine Gerechtigkeitsfrage.

 

LITERATUR

Beck, L., Sixtus, F., Nice, T. & Hinz, C. (2022). Landlust neu vermessen. Wie sich das Wanderungsgeschehen in Deutschland gewandelt hat. Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Online abrufbar unter: https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/landlust-neu-vermessen

Bade, C. (1992): Das Manifest des 60. Deutschland und die Einwanderung. C.H.Beck.

BMZ – Nr 23. Die Wirklichkeit der Entwicklungspolitik 2015. Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Nach den Weltgipfeln 2015. Ist die deutsche (Entwicklungs-)Politik fit für die Umsetzung der 2030 Agenda? Herausgeber: Deutsche Welthungerhilfe e.V. terre des hommes Deutschland e.V. https://www.tdh.de/fileadmin/user_upload/inhalte/10_Material/Wirklichkeit_der_Entwicklungspolitik/2015-23_Wirklichkeit_der_Entwicklungspolitik.pdf

Nohlen, Dieter: Globalisierung. In: Nohlen, Dieter (Hg.): Kleines Lexikon der Politik. 2. Aufl., Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, München, 2002a, S. 216

Krimmer, H. & Priemer, J. (2012). ZiviZ-Survey 2012. Zivilgesellschaft verstehen.Online abrufbar unter: https://www.ziviz.de/download/file/fid/206

Krimmer, H. (2018). Konturen und Strukturwandel der organisierten Zivilgesellschaft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 31(1-2), 195-203.

Priemer, J., Krimmer, H. & Labigne, A. (2017). ZiviZ-Survey 2017. Vielfalt verstehen. Zusammenhalt stärken. Berlin: ZiviZ. Online abrufbar unter: https://www.ziviz.de/sites/ziv/files/ziviz-survey_2017.pdf

Roth, R. (2021). Dunkle Seiten der Zivilgesellschaft – von 2001 bis 2021, in: Klein, A., Sprengel, R., & Neuling, J. (Hrsg.): 20 Jahre Enquete-Kommission" Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements"–Bilanz und Ausblick: Jahrbuch Engagement-politik 2022. Wochenschau Verlag

Klie, T. & Klie, A.W. (2018). Engagement und Zivilgesellschaft. Expertise und Debatten zum Zweiten Engagementbericht. Sprenger Verlag.

Zimmer, A. (2022). Herausforderungen für die Zivilgesellschaft und wie NPOs da-
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