Verbände und Initiativen fordern Bund und Länder auf, bei der Leistungsgewährung für Geflüchtete die Verfassung zu wahren und auf weitere rassistische Diskriminierungen zu verzichten Auf ihrem letzten Treffen haben die Ministerpräsident:innen der Länder gemeinsam mit dem Bund beraten, was getan werden kann, um die Zahl der Asylsuchenden in Deutsch­land zu reduzieren.

Ein Vorschlag der MPK lautet: Die Bezugsdauer für eingeschränkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz soll von 18 auf 36 Monate verlängert werden, und die Bargeldausgabe an Asylsuchende soll über eine sog. „Bezahlkarte“ regle­mentiert werden. Als Verbände, die im Umgang mit Asylsuchenden in Niedersachsen lange Erfahrung haben, stellen wir fest:

1) Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind verfassungswidrig:

Mit seiner Entscheidung vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hat das Bundes­verfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben, dass Leistungskürzun­gen nur für einen kurzen Zeitraum und nur dann zulässig sind, wenn nachvollziehbar be­rechnet und nachgewiesen werden kann, dass tatsächlich in der ersten Zeit ein geringerer Bedarf besteht. Eine solche Begründung fehlt nach wie vor, obwohl das Bundesverfassungsgericht am 19.10.2022 seine Rechtsprechung nochmals bekräftigt und damit eine weitere verfassungswidrige Kürzung des Gesetzgebers aufgehoben hat.

2) Die vorgeschlagenen Maßnahmen sorgen für eine Desintegration:

Eine Politik der Abschreckung und „Vergrämung“ durch Leistungskürzungen und sozialen Ausschluss hat für die hier lebenden Geflüchteten gravierende Folgen. Der verlängerte Ausschluss von einer gleichberechtigten Teilhabe durch Unterschreitung des gesetzlich definierten Existenzminimums, die Versagung einer angemessenen Gesundheitsversor­gung über die Krankenkassen und technische Restriktionen über eine „Bezahlkarte“ ge­fährden die Gesundheit und verursachen Prozesse der Ausgrenzung und Ghettoisierung. Sie verstärken damit rassistische Erfahrungen, die oftmals ohnehin zum Alltag Geflüchte­ter gehören.

3) Die vorgeschlagenen Maßnahmen verfehlen ihr Ziel:

Es ist irrational zu glauben, Geflüchtete würden sich durch „Bezahlkarten“ und die Ein­schränkung von Sozialleistungen davon abschrecken lassen, in Deutschland Asyl zu beantragen: Zunächst einmal bleibt festzustellen, dass Menschen nach Deutschland kommen, weil sie Schutz vor Verfolgung, Krieg oder Krisen finden wollen. Eine Schutzquote von über 70% in diesem Jahr macht deutlich, dass selbst nach Ansicht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die meisten Asylantragsteller:innen zu Recht Schutz suchen. Innerhalb der EU ist für Schutzsuchende Deutschland in erster Linie Zielland, weil sich bereits Familienangehörige und Bekannte bzw. Angehörige einer Community von Geflüch­teten hier aufhalten, weil sie politische, ökonomische und soziale Sicherheit wollen, die Gewährleistung demokratischer Prinzipien und Möglichkeiten eines beruflichen Neuan­fangs. Die Leistungsform und Dauer von Leistungskürzungen sind in der Regel gar nicht bekannt und spielen bei der Wahl des Zielstaats absolut keine Rolle.

4) Die gesetzgeberischen Tricksereien zur Unterschreitung des Existenzminimums müssen endlich auch in Niedersachsen unterbunden werden:

Trotz des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022 erhalten Asylsu­chende mit einer Aufenthaltszeit von unter 18 Monate in Gemeinschaftsunterkünften in Niedersachsen nur gekürzte Leistungen, weil das Land sich weigert, den Empfehlungen des BMAS vom 23.1.2023 und der Aufforderung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) vom 03.05.2023 zu folgen und das Urteil auf alle Leistungsempfänger:innen nach dem AsylbLG in Gemeinschaftsunterkünften anzuwenden. In Hessen, NRW und Bayern ist dies längst geschehen, der grüne Finanzminister Niedersachsens verweigert jedoch bis heute die Korrektur der offenkundig verfassungswidrigen Praxis, um auf dem Rücken von Asylsuchenden Geld einzusparen. Wir fordern Bund und Länder auf, endlich zu einer grundgesetzkonformen Ausge­staltung von Leistungen für Geflüchtete zurückzukehren, auf die Einführung einer diskriminierenden Bezahlkarte mit eingeschränkten Funktionen zu verzichten und eine angemessene gesundheitliche Versorgung für alle Asylsuchenden zu gewähr­leisten.

Unterzeichnet von:

  • Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
  • Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V.
  • Paritätischer Wohlfahrtverband Niedersachsen e.V.
  • AWO Bezirksverband Hannover e.V.
  • Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in Niedersachsen – amfn e.V.
  • Exil e.V. Osnabrück
  • Arbeitskreis Asyl Cuxhaven e.V.
  • Bundes Roma Verband e.V.
    Roma Center e.V./ Roma Antidiscrimination Network
  • VVN-BdA e.V.
  • Verein „Willkommen in Lehre“ e.V.
  • REFUGIUM Flüchtlingshilfe e.V. aus Braunschweig
  • Janusz Korczak – Humanitäre Flüchtlingshilfe e.V.
  • Outlaw gGmbH – Osnabrück
  • JANUN Lüneburg e.V.
  • mosaique – Haus der Kulturen e.V.
  • Lüneburger Netzwerk gegen Rechts
  • IBIS-Interkulturelle Arbeitsstelle e.V.
  • Landesjugendring Niedersachsen e.V.
  • SJD – Die Falken, Unterbezirk Hannover
  • Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen – NTFN e.V.
  • TRIVT e.V. – Welcome House und Fahrradwerkstatt
  • ver.di Landesbezirk Niedersachsen-Bremen
  • Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen e.V.
  • Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. – VNB
  • Kritische Mediziner*innen Oldenburg
  • Allgemeiner Studierendenausschuss (AStA) der Universität Göttingen
  • kargah e.V.
  • (weitere Unterstützung möglich)