Am 14. Juni 2021 empfingen die Eine Welt-Regionalpromotor*innen für Südniedersachsen Chris Herrwig und Noreen Hirschlfeld zahlreiche Interessierte und insbesondere Vertreter*innen von zahlreichen lokalen Initiativen, Gruppen und Parteien in der Göttinger Innenstadt. Dort hatten Sie eine mobile Kamerabox aufgebaut, die zwei Wochen lang durchs Land tourte. Mit Aufstellern, Flyern und anderem Material kamen sie mit den Menschen vor Ort zu den kolonialen Wurzeln heutiger rassistischer Strukturen ins Gespräch. Aufhänger waren dafür auch die Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN, die sogenannten SDGs. In Göttingen ging es insbesondere um das Ziel Nummer 10, in dem sich die Staaten vorgenommen haben Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten zu verringern.

Die Aktion verdeutlichte, wie ungleich der Wohlstand lokal und global verteilt ist. Kolonialismus und das Fortbestehen vieler seiner Strukturen spielen dabei eine wichtige Rolle. Heutige rassistische Strukturen lassen sich nur verstehen, wenn wir die dazugehörige(n) Geschichte(n) kennen. Viele wichtige Perspektiven, insbesondere von Betroffenen, werden dabei allzu oft nicht wahrgenommen. Dies zu ändern war ein Anliegen der Veranstaltung.

Bei bestem Wetter am Göttinger Nikolaikirchhof haben gab viel Interesse, eine Menge Austausch, spannende Gespräche und einige Statements zu #SpeakUpfor1Welt. Mit dabei waren Ifak Göttingen, UNTER EINEM DACH, Weltladencafé Göttingen, Vonwegen Verlag, Buchladen Rote Straße, Dr. Ehsan Kangarani, Grüne Göttingen, Studieren Ohne Grenzen Göttingen und viele weitere Beteiligte!

Der Ursprung des Rassismus geht auf die Kolonialisierung zurück

Kolonialismus ist mehr als eine vergangene Epoche. Ihm liegt eine Geisteshaltung zugrunde, in der sich insbesondere Europäer*innen über andere Menschen stellten. Als Begründung konstruierten sie eine Rassen- und Zivilisierungshierarchie. Die Folgen waren Ausbeutungen, Versklavungen, Vertreibungen bis hin zu Vernichtungen. Trotz des zahlreichen Widerstands von Kolonialisierten gegen die Eroberer hat der Kolonialismus bis heute Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, zwischenmenschliche Beziehungen und Individuen.

Rassismus war maßgeblich für die Versklavung von Millionen Menschen sowie die Ausbeutung von Rohstoffen in kolonialisierten Gebieten. Die konstruierte Überlegenheit nutzten auch die Nationalsozialisten zur Rechtfertigung ihrer grausamen Vernichtungspolitik. Die Wissenschaft hat widerlegt, dass es menschliche Rassen gibt. Dennoch ist Rassismus in vielen Köpfen und Strukturen bis heute verankert. Die daraus folgenden Diskriminierungen gehören zum Alltag vieler Menschen.

Um einen verantwortungsvollen Umgang mit kolonialen Kontinuitäten zu gewährleisten muss Bildungsarbeit von benachteiligten Gruppen selbst ausgehen. Wie können wir unterdrückte und widerständige Geschichte(n) erlebbar machen, lehren und für unsere Zukunftsentwürfe verwenden? Wer hat bisher Geschichte geschrieben und wer nicht? Welche Geschichten wurden ausgelassen? Welche werden nur aus der Perspektive der Mächtigen erzählt?

 

Leerstellen in Niedersachsens Erinnerungskultur

Niedersachsen hat eine vielfältige Erinnerungskultur. Auf verschiedenen Ebenen wird Geschichte mahnend und erinnernd aufgearbeitet. Es existieren Gedenkorte, Mahnmale und Denkmäler. In Museen, Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen werden die Geschichte und ihre Auswirkungen auf heute präsentiert und facettenreich diskutiert. Jedoch spielt die (deutsche) Kolonialgeschichte dabei meist eine kaum beachtete und untergeordnete Rolle.

 

Göttingen – eine Kolonialmetropole

  • Der Göttinger Student Carl Peters gilt als Begründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ – auf dem heutigen Gebiet der Länder Tansania, Burundi und Ruanda. Seine Gewaltexzesse gegen Kolonialisierte und besonders seine willkürlichen Todesurteile brachten ihm den Namen „Hänge-Peters“ ein.
  • In Göttingen stationierte Soldaten meldeten sich freiwillig für den Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama (1904 bis 1908) in „Deutsch-Südwestafrika“ – auf dem heutigen Gebiet Namibias. Heute gilt er als erster Völkermord.
  • Chéng Qíyīng (程琪英,1904-1968) war eine von ca. 88 chinesischen Student*innen, die zwischen 1920 und 1933 in Göttingen studierten. Sie engagierte sich gegen Kolonialismus und koloniale Kontinuitäten. Unter Anderem verteilte sie 1925 antikoloniale Flugschriften in Göttingen.

Viele weitere Beispiele finden sich auf der Website „Göttingen kolonial“ der Universität Göttingen.



Wie können wir unsere Köpfe, Herzen und Umgebungen dekolonialisieren?

Von Rassismus betroffene Menschen machen oft gute Erfahrungen mit sogenanntem Empowerment: Das bedeutet in etwa Unterstützung dabei, sich eigener Fähigkeiten bewusster zu werden und eigene Kräfte zu entwickeln, um ein selbstbestimmteres Leben führen zu können. Weiße Menschen hingegen berichten von transformativen Prozessen, die beispielsweise angestoßen werden durch die Beschäftigung mit sogenanntem „Kritischen Weißsein“. Neben der individuellen Auseinandersetzung müssen sich für eine wirksame #Dekolonialisierung jedoch insbesondere auch Strukturen und Institutionen ändern.

In Niedersachsen kann dies bedeuten:

  • Stärkung dekolonialer Bildungsarbeit, zum Beispiel durch die Schaffung/Förderung von bezahlten Stellen zum Thema
  • Globalisierung und Diversifizierung des schulischen und universitären Geschichtsunterricht durch neue Lehrpläne
  • Einrichtung von Antidiskriminierungsstellen
  • Förderung von Konzepten zur Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte und ihren Folgen unter maßgeblicher Beteiligung der Nachfahr*innen Kolonialisierter
  • Förderung von Mahnmalen und anderen Gedenkorten für die Opfer von Kolonialismus, Versklavung und Rassismus
  • Straßen, die durch ihren Namen Kolonialverbrecher*innen ehren oder rassistische Fremdbezeichnungen fortschreiben, umbenennen. Stattdessen Würdigung von Persönlichkeiten des antikolonialen Widerstands und Kommentierungstafeln.
  • Dekolonialisierung von Museen, z.B. durch Nachkommen der Kolonialisierten als Expert*innen in Museumsteams
  • Erinnern an Persönlichkeiten wie Anton Wilhelm Amo, afrodeutscher Vorreiter antirassistischer Arbeit 

 

Göttingen #dekolonialisieren!

Auszug aus dem Kommunalen Aktionsplan gegen Rassismus des Integrationsrat Göttingen

Für dringend erforderlich halten wir:

  • Die Stadt garantiert die Beseitigung und Aufhebung aller diskriminierenden kommunalen Vorschriften und Bescheide
  • Die Einrichtung einer Kommunalen Antidiskriminierungsstelle in freier Trägerschaft
  • Diversitätsorientierte Weiterentwicklung und garantierte Repräsentation für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in allen kommunalpolitischen Gremien gemäß ihres Bevölkerungsanteils
  • Diversitätsorientierte und diskriminierungskritische Organisationsentwicklung der Verwaltung, inkl. verpflichtende Quoten für Menschen mit Rassismuserfahrung im Öffentlichen Dienst entsprechend ihres Anteils in der Bevölkerung
  • In Ermangelung eines Gedenkkonzeptes, das die koloniale Geschichte der Göttinger Wirtschaft, Museen, Wissenschaft und anderer Institutionen kritisch aufarbeitet, fordern wir die Entwicklung einer Erinnerungskultur, angesiedelt beim Kulturamt der Stadt. Wir setzen uns dafür ein, dass die Stadt Göttingen und Göttinger Institutionen ihre koloniale Vergangenheit offenlegen.
  • Die Erinnerungskultur und die damit verbundene historisch-politische Bildung stärker fördern, sowie schulische, außerschulische und betriebliche Lernangebote schaffen.
  • Problematische Straßennamen auf Grundlage postkolonialer Quellen umbenennen
  • Eine rassimuskritische Kinder-/ Jugendarbeit praktizieren.
  • Alle Schulen werden „Schulen mit Courage“
  • In Göttingen werden Schüler*innen mit Zuwanderungs-geschichte im Regelunterricht beschult.
  • Vorbereitungs- und Sprachlernklassen werden abgeschafft.

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